Im Interview mit Klaus Lang
Am 20. Dezember 2021 spielte das Klangforum Wien bei dem Konzert „Dezembernächte von Sviatoslav Richter“ im Puschkin-Museum in Moskau. Das Ensemble präsentierte ein Reflexionsprogramm zum Thema musikalische Geometrie in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts und spielte unter Anderem die Uraufführung von „Риза“ – einem Werk von Klaus Lang, das er eigens für das Konzert im Pushkin Museum komponierte. In dem Interview am 20. Dezember 2021 sprach Marina Syomina von Radio Orpheus mit Klaus Lang über seine Komposition.
Marina Syomina:
Klaus, erzähl uns wie die Musik in dein Leben kam und warum du diesen Weg und diesen Beruf gewählt hast.
Klaus Lang:
Ich komme, anders als viele Kolleg*innen, nicht aus einer Musikerfamilie: Meine Mutter arbeitete als Sekretärin, mein Vater war Lehrer. Aber meine Familie legte großen Wert auf Bildung und verstand Musik als einen ihrer wichtigsten Bestandteile. Seit meiner Kindheit war ich von Kunst umgeben und sie interessierte mich: Ich las viel und war von Musik begeistert. Mit zwölf oder dreizehn Jahren war mir klar, dass ich Musiker werden wollte. Dies war kein Zufall, sondern ich wurde von Vorbildern und Büchern beeinflusst, wie es oft bei Musiker*innen der Fall ist. Es war meine eigene bewusste Entscheidung. Ich lernte Klavierspielen und beschäftigte mich darüber hinaus viel mit der Musik.
Marina Syomina:
In einem Ihrer Interviews sagen Sie, dass Sie Musik als ein freies, an sich wertvolles akustisches Objekt sehen und dass Musik hörbar gewordene Zeit ist. Welche Rolle spielt der/die Komponist*in in diesem Fall?
Klaus Lang:
Seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart wird Musik allgemein als eine Form der Selbstdarstellung wahrgenommen. Sie soll die eigenen Gefühle und Emotionen des Autors widerspiegeln. Wenn wir in die Vergangenheit blicken und uns zum Beispiel dem Barock zuwenden, können wir feststellen, dass die Musik damals der Sphäre der Rhetorik angehörte, also eine Art Kommunikationsmittel war. Musik konnte Freude oder Liebe vermitteln, aber Komponist*innen und Interpret*innen drückten darin nicht ihre eigenen Gefühle aus. In meiner Arbeit gehe ich noch weiter in die Vergangenheit – in die Zeit des Mittelalters und der Renaissance (ich spreche von der westlichen Kultur), als es noch keine Vorstellung von Rhetorik gab. So wie ein*e Künstler*in Gemälde und ein* Bildhauer*in Statuen erschafft, die im Raum platziert werden und die man betrachten kann, erschaffe ich komplette musikalische Objekte, ohne meine Emotionen in sie zu übersetzen. Musik ist in diesem Fall kein Kommunikationsmittel. Meine Kompositionen können bei den Zuhörer*innen Gefühle hervorrufen. Sie können ihnen gefallen und sie inspirieren, aber ich spreche die Zuhörer*innen nicht direkt an.
©Radio Orpheus
Marina Syomina:
Ist hier die Persönlichkeit des Autors präsent oder wird sie ausgespart?
Klaus Lang:
Lassen Sie mich Ihnen noch ein Beispiel aus der Musikgeschichte geben. Carl Philipp Emanuel Bach schuf ein berühmtes Werk – Fantasia, in dem er seine tiefsten persönlichen Gefühle zum Ausdruck brachte. Sein Vater, Johann Sebastian Bach, schrieb hingegen in der Tradition der Rhetorik, ohne seine eigenen Gefühle in seiner Musik offenzulegen. Seine Werke unterliegen dabei den strengen Regeln des Kontrapunkts. Dennoch rufen sie bei uns eine gewisse Emotionalität hervor und in seiner Musik lässt sich zweifelsohne der Stil eines individuellen Autors nachvollziehen.
Marina Syomina:
Wenden wir uns dem heutigen Konzert im Puschkin-Museum zu. Sagen Sie uns bitte, welches Werk heute gespielt wird und wie es entstanden ist.
Klaus Lang:
Das Konzert heißt „Die Geometrie des Kontrapunkts“. Darin wenden wir uns dem klassischen linearen Kontrapunkt zu. Für dieses Konzert wurde ich gebeten, ein Werk zu schreiben, das sich genau auf die kontrapunktische Tradition bezieht. Auf der Suche nach einer Idee tauchte ich tief in die Musikgeschichte ein und richtete meine Aufmerksamkeit schließlich auf den Beginn des 15. Jahrhunderts und das Werk von Ockeghem, dem prominentesten Vertreter der französisch-flämischen Kontrapunktschule. Er ist der Vorläufer des italienischen Komponisten Palestrina, der neben Bach als größter Kontrapunktspieler gilt. Beim Schreiben meiner Arbeit habe ich die Tatsache berücksichtigt, dass das Konzert in Moskau stattfinden wird und mich der russischen Kunst zugewendet. Russische Ikonen haben mich schon immer fasziniert. Ockeghem hat in seinem künstlerischen Schaffen sehr viel spirituelle Musik komponiert und auch Ikonen sind Werke spiritueller Kunst. Dies habe ich in meinem Stück vereint.
Besonders gut gefallen mir die „Rizas“. Das sind vergoldete oder versilberte Metallabdeckungen, die die untere Farbschicht der Ikonen ergänzen und schmücken. Gleichzeitig kann das Bild selbst auf der Ikone viel älter sein als der Goldbeschlag, der darüber liegt. Außerdem hat mich schon immer fasziniert, dass aufgrund der Abdeckung nur kleine Fragmente der Ikone selbst sichtbar sind – Gesicht, Arme, Beine. Im übertragenen Sinne habe ich Ockeghems Arbeit als Ikone genommen und die „oberste Schicht“ dafür gemalt. Zuerst sehen wir einen prächtig funkelnden „Beschlag“ und dann erscheinen allmählich dunklere Elemente der „Ikone“ selbst – die Grundlage von Ockeghems musikalischem Werk. Das ist das Konzept meines Werks.
Marina Syomina:
Und wie heißt das Werk?
Klaus Lang:
„Риза“ (Riza)
Marina Syomina:
Heute Abend wird ein Ensemble für zeitgenössische Musik namens Klangforum Wien auftreten. Ich weiß, dass Sie sehr eng zusammenarbeiten. Bitte erzählen Sie uns von diesem Team und Ihrer Arbeit mit dem Ensemble.
Klaus Lang:
Die Musikgruppe Klangforum Wien wurde vor rund dreißig Jahren von Beat Furrer, der heute dirigiert, in Wien gegründet. Es ist eines der besten Ensembles der Welt, das moderne klassische Musik aufführt. Es wird „Ensemble“ genannt, aber tatsächlich sind es zehn oder fünfzehn Solist*innen, die zusammen ein Stück aufführen. Früher habe ich als Organist viel mit dieser großartigen Gruppe gespielt. Daher ist es mir eine große Freude und Ehre, dass wir heute nach einer ziemlich langen Pause zum ersten Mal wieder zusammen sind. Der Name „Klangforum“ spricht übrigens für sich: Eine der Stärken des Ensembles ist die höchste Klangqualität als solche, was mir persönlich als Komponist besonders wichtig ist.
Das Klangforum Wien bei dem Konzert im Pushkin Museum
Marina Syomina:
Wie wichtig ist es Ihrer Meinung nach für einen Komponisten, sein eigenes Werk auch aufzuführen?
Klaus Lang:
Traditionell haben Komponisten ihre eigene Musik aufgeführt. Und den Prozess der totalen Spaltung von Musikern in Komponist*innen und Interpret*innen, der im 20. Jahrhundert stattfand und den wir jetzt erleben, finde ich wirklich seltsam. Ich strebe danach, meine eigene Musik aufzuführen. Ich lebe sie gerne selbst, erlebe sie, begreife sie. Es ist mir wichtig, diese Möglichkeit zu haben. Ich möchte kein Komponist sein, der nur Noten schreibt. Ich möchte ein Komponist sein, der seine eigenen Kompositionen spielen kann.
Marina Syomina:
Erzählen Sie uns kurz von Ihren Eindrücken von Moskau. Kommen Sie gerne hierher? Wie gefällt Ihnen die Atmosphäre hier?
Klaus Lang:
Ich komme oft nach Russland. Zum Beispiel war ich im Juni dieses Jahres in St. Petersburg beim Musikfestival ReMusik.org. Ich kenne dort viele Kolleg*innen – sowohl Komponist*innen als auch Interpret*innen. Den russischen musikalischen Geist betreffend, sehe ich, dass die Kultur im Leben der Menschen erhalten und präsent ist und dass Musik nicht nur ein Mittel der Unterhaltung, sondern auch ein integraler Bestandteil der Kultur ist. Und das ist sehr wichtig.
Marina Syomina:
Klaus, ich möchte Sie nach der Komposition fragen, die wir gleich einspielen werden. Erzählen Sie uns von diesem Werk und seiner Entstehungsgeschichte.
Klaus Lang:
Dieses Werk habe ich im Beethoven-Jahr, im Auftrag der Kölner Philharmoniker, geschrieben. Wie wir wissen, war Beethoven in den späteren Jahren seines Lebens praktisch taub. Er kommunizierte durch Tagebücher, in die er Sätze schrieb und sie seinen Gesprächspartner*innen zeigte. Er schrieb sie mit Bleistift auf. Für Komponist*innen ist das Hören das zentrale Element der Kreativität. In meiner Arbeit wollte ich das Phänomen widerspiegeln, dass der Kontakt mit der Welt der Musik und die Fähigkeit zur Kommunikation davon abhängen, was der/die Komponist *in schreibt, und nicht davon, was er/sie hört. Im Wesentlichen läuft alles auf eine dünne Linie hinaus – eine Bleistiftlinie in einem Tagebuch. Das Werk ist so aufgebaut, dass wir zu Beginn nur eine „dünne Linie“ hören, die von der Bratsche gespielt wird. Am Ende wird das musikalische Gewebe auch in der „dünnen Linie“ der Geige zusammengezogen. Und mittendrin entfaltet sich eine ganze Klangwelt in ihrer unerschöpflichen Vielfalt. Eigentlich wird „Linea mundi“ mit „Linie der Welt“ übersetzt. Man kann sagen, dass dies eine dünne Linie ist, die in die Welt führt, oder dass sie sogar die Grenze dieser Welt ist.
©Radio Orpheus
Text und Interview: Radio Orpheus, Marina Syomina
Übersetzt aus dem Russischen
Zum Interview auf Radio Orpheus
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