Die Reise hat gerade erst begonnen
Während des diesjährigen Suntory Hall Summer Festival (21.-28. August 2022) in Tokio, wird das Klangforum Wien eine Konzertserie, zwei in der Main Hall und zwei in der Blue Rose Hall, spielen. Der Musikkritiker Walter Weidringer betrachtet den künstlerischen Werdegang des Ensembles, sowie seine Residenz bei dem Festival in Japan.
„Im Klangforum Wien Mitglied zu sein heißt nicht einfach, einen Musikerjob zu haben. Eher bedeutet es, eine Haltung zu vertreten. Nur wer dazu passt, findet Eingang in diese Gralsritterrunde der Neuen Musik.“ Peter Paul Kainraths Worte sind mit Humor gewürzt, aber mit Bedacht gewählt. 1964 in Bozen (Südtirol) geboren, studierter Konzertpianist und Theaterwissenschaftler sowie weltweit erfahrener und vernetzter Musikmanager, ist Kainrath seit 2020 Intendant des Klangforum Wien – eine Tätigkeit, die gleichfalls wenig mit herkömmlicher Verwaltung zu tun hat. Klangforum Wien, das bedeutet nämlich, bei aktuell zwei Vakanzen: 22 Musiker aus 11 Ländern, die sich auf basisdemokratische Weise um die eigenen künstlerischen Geschicke kümmern und Werke spielen, für die sie brennen. Für die beiden offenen Stellen (Flöte und Kontrabass) gab es einen Bewerbungsprozess, nach dem die ermittelten Finalisten nun 6 bis 8 Monate im Ensemble mitspielen – eine Probezeit für beide Seiten, die während der schlimmsten Phase der Pandemie nicht möglich gewesen wäre, aber unerlässlich ist.
Die obersten Kriterien für eine Mitgliedschaft sind „Kompromisslosigkeit und absolute Leidenschaft für die Sache der Musik“
– Peter Paul Kainrath
Dass das Klangforum Wien in den mittlerweile 37 Jahren seines Bestehens ein Ensemble von jugendlicher Frische geblieben ist, hat paradoxerweise viel damit zu tun, dass die Fluktuation im Ensemble gering ist, dass also viele Gründungsmitglieder noch aktiv sind und die Neuzugänge im Idealfall langfristig gebunden werden. Die obersten Kriterien benennt Kainrath mit „Kompromisslosigkeit und absolute Leidenschaft für die Sache der Musik“ – und das sei in Zeiten unmöglicher Proben- und Konzerttätigkeit nicht etwa verpufft, sondern habe sich im Gegenteil noch verdichtet: Während andere Ensembles klagten, nicht zusammen musizieren zu dürfen und dann vielleicht auf halb ausgegorene Streaming-Konzepte zu setzen, gingen die Mitglieder des Klangforum lieber jeder für sich gleichsam in Virtuosenklausur. Anhand herausfordernder Solowerke von Georges Aperghis, Toshio Hosokawa, Olga Neuwirth, Rebecca Saunders und Salvatore Sciarrino „haben sich alle selbst nochmals einen speziellen Diamantenschliff verpasst“: 36 Stücke, fünfeinhalb Stunden Musik, dokumentiert in der 5-CD-Box „Solo“ (Kairos). „Das kommt dem Ensemble jetzt künstlerisch aufs Neue zugute“, sagt Kainrath.
„Back to normal“ heißt für das Klangforum freilich: weiter mit dem Ungewöhnlichen. Heimatliches Zentrum ist der eigene Konzertzyklus im Wiener Konzerthaus, die zweite Heimat ist Graz, wo das Klangforum an der Kunstuniversität eine kollektive Professur für Performance Practice in Contemporary Music innehat – eine einzigartige Konstellation.
Unerlässlich ist weiters die Zusammenarbeit mit dem Festival Wien Modern und dem Erste-Bank-Kompositionspreis. Außerdem ist das Klangforum regelmäßig zu Gast bei den Salzburger Festspielen, im „ganz besonderen Format der Ouverture spirituelle“: Da dirigierte letzten Sommer etwa in ein und demselben Konzert Pablo Heras-Casado das Klangforum und Cantando Admont bei Luigi Dallapiccolas „Canti di prigionia“, dann Jordi Savall seine eigenen Ensembles bei Monteverdi – und für abschließende „Da pacem“-Kompositionen durch die Jahrhunderte sang Heras-Casado bei Girolamo Parabosco und Arvo Pärt mit: eine sympathisch-symbolhafte, für die Anwesenden unvergessliche Draufgabe bei einem raren Zusammenwirkens von Spezialisten für die Musik von Einst und Jetzt. „Das Überschreiten historisch-stilistischer Zonengrenzen wird auch für die Neue Musik noch viel wichtiger werden“, ist Kainrath überzeugt. In diesem Licht ist auch ein aktuelles Projekt mit Thomas Hampson zu sehen, bei dem Gustav Mahler und Charles Ives mit jungen amerikanischen Komponisten zusammentreffen – und eine Reihe von „Meta-Opern“, eigens erarbeitete, halbszenische Pasticcios aus Musiktheaterwerken der letzten 100 Jahre zu bestimmten Themen, die im November 2022 mit „Amopera“ in Erl (Tirol) ihren Anfang nehmen soll, in Zusammenarbeit mit Jan Lauwers und der Needcompany.
Abgesehen von weiteren Fixpunkten wie den Festivals in Donaueschingen, Witten und Köln oder ManiFeste des IRCAM in Paris sieht Kainrath die Zukunft jedenfalls in länger und tiefer gehenden Kooperationen. Im Mai hat etwa eine dreijährige Residenz beim Festival Prager Frühling begonnen: Mit zwei Konzerten sowie Reading Sessions mit jungen tschechischen Komponisten kann das Klangforum in einen viel engeren Dialog mit der jeweiligen Szene vor Ort eintreten. Ähnliche Kooperationen haben sich schon mit dem NYKY Ensemble der Sibelius Academy Helsinki ergeben und sollen auch, unabhängig von der regulären Konzerttätigkeit, mit dem Konservatorium Peking verwirklicht werden.
Das Klangforum Wien beim Suntory Hall Summer Festival 2022
In diesem Kontext betrachtet Kainrath auch die Residenz in der Suntory Hall: „Wer sich als Musiker, als Ensemble darstellen und daran wachsen will, muss reisen. Man kann vernünftig, zumindest vernünftiger reisen. Andernfalls gäbe es nur noch isolierte nationale Musikleben. Für ein Konzert ans andere Ende der Welt zu fliegen kann man mit Recht kritisieren. Aber die Residence in der Suntory Hall funktioniert anders: Wir können uns dabei nicht nur von unterschiedlichen Seiten präsentieren, sondern wir arbeiten auch intensiv mit japanischen Musikern zusammen.“ Kainrath setzt auf künstlerische Nachhaltigkeit, er will intensivere Kontakte knüpfen, längerfristige Entwicklungen anstoßen, Gemeinsames aufbauen: „Wer, wenn nicht wir? In Prag wurden wir gerade gefragt, ob wir Missionare seien. Nein: Wir sind Forscher, Entdecker!“
Zu entdecken gibt es jedenfalls auch für das Publikum der Suntory Hall von 22. bis 26. August 2022 eine Menge: Was die Wiener Philharmoniker für das klassisch-romantische Repertoire sind, ist das Klangforum für die Musik der Gegenwart – und der Dirigent Emilio Pomàrico ist ein langjähriger, enger Partner des Ensembles. Den Auftakt bildet ein Abend mit dem Titel „Pioneers toward the Future“. Johannes Maria Staud ist einer der maßgeblichen österreichischen Komponisten der mittleren Generation, sein „Listen, Revolution (We’re buddies, see – )“ ist inspiriert von Langston Hughes und seinen Kampf gegen Diskriminierung und strukturellen Rassismus in den USA der 1930er Jahre. Die 1980 in Kroatien geborene Mirela Ivičević überrascht in ihren fantasievollen Werken mittels Collage- und Sampling-Techniken; ihr steht in Eiko Tsukamoto (geboren 1986) eine Kollegin gegenüber. Ergänzt wird das durch die lohnende Kombination von Toru Takemitsus „Tree Line“ und „Wer, wenn ich schriee, hörte mich …“ von Georg Friedrich Haas, der mit seinem mikrotonalen Komponieren weltweit Aufsehen erregt. Tags darauf kommt als „Family Tree of Klangforum“ tatsächlich so etwas wie der engste Kreis zu Wort, nämlich die komponierenden Ehrenmitglieder des Ensembles: neben Haas und den schon früher erwähnten Größen Aperghis, Neuwirth, Saunders und Sciarrino sind das Friedrich Cerha, der Klangforums-Gründer Beat Furrer, Bernhard Lang und Enno Poppe.
Der dritte Abend firmiert unter „Das neue Wien“ und beleuchtet die historische Moderne der Schönberg-Schule und deren Wurzeln in teils neuen Bearbeitungen. Das Finale beherrscht zu dessen Hunderter Musik von Iannis Xenakis: „Persephassa“ lässt den großen Saal durch die das Publikum umringenden Schlagzeuger neu erleben, und „Kraanerg“, ein explosiver Klassiker des 20. Jahrhunderts, bringt auch musikalisch das zusammen, was der Titel andeutet: Er setzt sich aus den griechischen Wortstämmen für „vollenden“ und „Energie“ zusammen.
So betrachtet ist „Kraanerg“ gleichsam ein Echo des künstlerischen Programms des Klangforum. „Was Beat Furrer 1985 bei der Gründung vorschwebte, war jedenfalls kein bloßer ‚Wiener‘ Klangkörper“, blickt Kainrath zurück, „denn das Klangforum hieß bis 1989 ‚Société de l’Art Acoustique‘. Furrer wollte ein Ensemble unabhängig von territorialen Abhängigkeiten und radikal im Dienste des Neuen. Das hatte es in Wien so einfach nicht gegeben. Peter Oswald hat es dann als Intendant schamlos groß gemacht, nämlich sozusagen durch ständige Überforderung,. Sven Hartberger hat das auf maximale Weise konsolidiert. Der besondere Enthusiasmus, der dem Klangforum Wien gerade auch dort entgegenschallt, wo der direkte Vergleich mit anderen Ensembles der Neuen Musik möglich ist, bestätigt unsere Exzellenz.“ Und diese speist sich auch durch basisdemokratische Strukturen. „Die Trennlinie zwischen Intendanz und Ensemble ist nicht scharf gezogen“, erläutert Kainrath, „es geht stets um Vermitteln und Kommunizieren.“ Drei Musiker bilden die Dramaturgie, entwerfen Konzertprogramme; aufgrund ihrer Vorschläge tritt Kainrath in Verhandlung mit den Veranstaltern. Er selbst sehe sich als „Ideengeber“, der sich nicht mehr in die Details dessen einmischt, was die Musiker in Arbeitsgruppen entwickeln, ja sogar als „Kammerdiener“ des Klangforums: Er will Formen ermöglichen, die jeweils neu gefüllt werden können, künftiges Musikleben vorwegnehmen und gestalten. Dabei beschäftigen ihn selbstverständlich auch Fragen nach Wirtschaftlichkeit und Wertschöpfung – aber auch neue künstlerische Herausforderungen. „Von uns uraufgeführte Stücke wie Haas’ ‚in vain‘, Sciarrinos ‚Quaderno di strada‘, Furrers ‚Fama‘ sind in die Musikgeschichte und zugleich in unsere Ensemble-DNA eingegangen. Wir wollen uns aber nicht darauf beschränken, diese Werke besser als alle anderen zu spielen, das machen wir sowieso, sondern wir wollen mit neuen Kompositionsaufträgen für großes Ensemble auch dafür sorgen, dass wir an bislang unbekannten Herausforderungen weiter wachsen.“
37 Jahre: Die Reise hat gerade erst begonnen.
Walter Weidringer
* Walter Weidringer lebt und arbeitet in Wien als Musikwissenschaftler, freier Journalist, Kritiker (Die Presse) und Radio Broadcaster (Ö1)
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